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Vol'jin Das Urteil

Das Urteil ist eine Kurzgeschichte von Brian Kindregan, welche auf der offiziellen Seite veröffentlicht wurde.

Charaktere

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Das Urteil

Der junge Troll kauerte im Regen, er starrte geradeaus, dorthin, wo der Pfad vor dem dichten Unterholz des Dschungels kapitulierte. Das Sonnenlicht konnte das dichte Laubwerk nicht durchdringen, ebensowenig konnte es der Wind. Dieser Teil der Insel trug den Namen Erste Heimat, und niemand außer Schattenjägern und Narren begab sich je dorthin.

Vol’jin war kein Schattenjäger.

Er konnte das Wasser in Bächen zwischen seinen Zehen hindurchrinnen spüren. Es regnete heftig, und jeder Tropfen, der auf seinen Rücken klatschte, drängte ihn in Richtung Erste Heimat. Manchmal kehrte einer der Schattenjäger von hier zurück, doch niemals einer der Narren. Hinter Vol’jin suchte ein weiterer Troll Schutz unter einem großen Palmenblatt.

Zalazane war ebenfalls kein Schattenjäger.

„Wir sind nich’ bereit“, sagte Zalazane, während er geräuschvoll auf einem Stück Kommufleisch kaute. „Das Urteil is’ was für ältere Trolle, die schon mächtige Taten vollbracht hab’n. Wir sind junge Niemande.“

„Ich bin nur jung. Du bist ein Niemand.“ Vol’jin gluckste und stand auf. „Wir müssen weiter, Zal. Mein Vater hat letzte Nacht stund’nlang ins Feuer gestarrt, und jetzt tut er so, als ob das Verhängnis über ihm schwebt. Ich vermute, er hatte eine Vision. Es wird Veränderungen geben, und wir müss’n bereit sein.“

„Glaubst du, sie werd’n aus dir einen Schattenjäger machen?“

„Sie werd’n auf jeden Fall das Urteil über mich fäll’n. Mich testen. Ich weiß allerdings nich’, was das genau bedeutet.“

„Sie sagen, die Loa übernehm’n unsere Gedanken“, sagte Zalazane ernst. „Sie verdrehen und verbiegen uns und lassen uns Visionen seh’n.“

„Es gibt viele Tests, habe ich gehört. Wenn sie mich für würdig eracht’n, werde ich zum Schattenjäger“, antwortete Vol’jin. „Wenn sie mich nich’ für würdig eracht’n… Dann kann uns nichts retten.“

„Oh, von mir werd’n sie sehr beeindruckt sein.“ Zalazane lächelte wissend.

„Aber dich werden sie auslach’n.“ Er trat in den Schlamm und schlenderte herüber, um sich neben seinem Freund aufzustellen. Sie guckten sich für einen Augenblick an und begannen dann beide breit zu grinsen, ihre Hauer entblößt. Während ihrer gesamten Kindheit im Dorf der Dunkelspeere war dies das untrügliche Zeichen dafür gewesen, dass als nächstes eine ausgesprochene Dummheit von Vol’jin und Zalazane folgen würde.

Mit einem gewaltigen Schrei rannten sie Hals über Kopf los in die Erste Heimat. Sie durchbrachen Ranken und Wurzeln, die nach ihnen griffen. Der Ort versprach sowohl schnellen als auch qualvollen Tod, aber sie waren jung und überzeugt davon, nicht wirklich sterblich zu sein.

Doch hier gab es Loa. Die uralten Geister jener, die den Tod überwunden hatten, konnten zwar die fantastischsten Segen gewähren, doch ebenso auch die entsetzlichsten Strafen verhängen. Die Loa konnten einem Troll das zweite Gesicht verleihen - oder sie konnten ihn in den Wahnsinn treiben, so dass er sich die eigenen Augen aus dem Kopf riss. Ihr Urteil war teuflisch, rasch und unvorhersehbar.

Vol’jin und Zalazane rannten eine Zeit lang, und beide begannen sich zu fragen, ob die Legenden, die sich um die Erste Heimat rankten, übertrieben waren. Es schien kein besonderer Schrecken auf sie zu lauern. Zwei riesige Farnwedel blockierten den Weg vor ihnen. Mit einem Zucken teilten sie sich und gaben den Blick frei auf eine fleischfressende Pflanze: eine Nambu. Pelzige Lippen, weit geöffnet und wartend. Feinfaserige Zähne wanden sich erwartungsvoll in dem klaffenden Schlund, und Vol’jin konnte nicht rechtzeitig abbremsen. Er warf sich nach links und streifte dabei die Seite der Nambu.

Zappelnd und mit den Armen wedelnd schlidderte er in etwas Festes und Schuppiges. Er stolperte zurück, benommen, mit einem Kopfschütteln. Das Etwas drehte sich zu ihm um und entpuppte sich als ein sehr wütender, sehr großer Raptor - der größte, den Vol’jin jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er wich weiter zurück, in dem klaren Bewusstsein, dass irgendwo hinter ihm die Nambu war. Er konnte hören, wie Zalazane eigenartige, gedämpfte Geräusche von sich gab, doch er hatte seinen Freund aus den Augen verloren.

Der Raptor schnellte seinen Kopf hinunter zu Vol’jin, und der taumelte nach links. Riesige Kiefer schnappten zu, genau dort, wo er eben noch gestanden hatte. Geiferfäden flogen vom Maul der Bestie. Die Nambu reagierte mit Lichtgeschwindigkeit auf die Bewegung und schloss ihre Zähne um den Raptor, wodurch sie in das verletzte Fleisch des Raptoren ihr Gift injizierte. Vol’jin hatte nur einige wenige Herzschläge lang Zeit, sich die Ablenkung zunutze zu machen: er zog seine Gleve und bewegte sich abwägend um die Nambu. Zalazane befand sich auf der anderen Seite der Pflanze, er zertrampelte ein Nest von Alchukäfern, die ausgeschwärmt waren und ihn mit Bissen und Stichen übersäten. Er würde wohl für eine Weile keine Hilfe sein.

Der Raptor riss die Nambu samt Wurzel aus dem Boden und schleuderte sie weit fort. Seine winzigen, zornigen Augen richteten sich auf Zalazane, durch die wilden Bewegungen des Trolls angezogen.

Es blieb keine Zeit. Vol’jin stieß einen Kriegsschrei aus und stach mit seiner Waffe zu. Fleisch teilte sich: Vol’jin hatte einen Strom von Blut auf dem Rücken des Raptors ausgelöst. Mit einem schrillen Wutschrei schwang dieser herum und versetzte Vol’jin einen heftigen Hieb mit dem Kopf, so dass er in den Büschen landete. Vol’jin konnte nichts mehr sehen, sein Gesicht war von feuchten, klebrigen Blättern bedeckt. Er spürte, wie der Boden bebte, als das Biest auf ihn zurannte. Vol’jin stolperte rückwärts und zur Seite, er spürte die Zähne ein weiteres Mal nur Zentimeter von ihm entfernt. Er konnte sein Gesicht gerade rechtzeitig von den Blättern befreien, um zu sehen, wie der Raptor wendete und wieder auf ihn zukam.

Hinter dem Raptor konnte er Zalazane hören, der schrie und lärmte.

Vol’jin kroch rückwärts, er wagte es nicht, dem Untier den Rücken zuzukehren. Er konnte sehen, dass Zalazane von der anderen Seite aus angriff, doch der Raptor schwang seinen Schwanz dicht am Boden und holte Zalazane so von den Füßen. Das Manöver brachte Vol’jin nur eine Sekunde, doch das musste genügen.

Er sprang auf den Raptor zu und warf seine langen Arme um dessen Hals. Für einen entsetzlichen Moment war sein Gesicht in den Unterkiefer des Tieres gepresst, sein hochstehendes Haar bewegte sich im Atemhauch des Monsters. Dann gelang es ihm, sich um den Hals zu schwingen und seine Knie um die Schulterblätter des Raptors fest zu schließen.

Der Raptor kreischte und buckelte. Zalazane sprang wieder auf die Füße und ließ seinen Stab auf den Klauenfuß des Biests niedersausen. Vol’jin konnte hören, wie der Knochen splitterte. Er klammerte sich noch fester an den Nacken und setzte seine Klinge an den Hals des Tiers.

Der Raptor hatte Vol’jin aufgegeben und näherte sich nun Zalazane, seinen gebrochenen Fuß hinter sich herziehend. Zalazane bewegte sich langsam rückwärts, doch Vol’jin konnte spüren, wie sich die Muskeln des Tieres unter ihm spannten und zusammenzogen. Es blieben nur Sekunden.

Vol’jin machte eine ruckartige Bewegung und konnte spüren, wie seine Gleve sich in Muskeln und Arterien grub. Blut spritzte in einer scharlachroten Fontäne, als er die Gleve in weitem Bogen wieder herauszog. Der Raptor wankte erst in die eine Richtung, dann in die andere, bis er schließlich zu Boden fiel, sein Maul nur Zentimeter von Zalazanes Füßen entfernt. Vol’jin strampelte sich frei.

„Was war das denn?“ keuchte Zalazane. „Das war der größte Raptor, den ich je gesehen habe.“

„Vielleicht war er von einem Loa besessen? Unser erster Test?“

„Das glaube ich nich’, Mann.“ Zalazane bewegte sich in Richtung der klaffenden Kehle des Raptors, wobei er die Todeszuckungen des Tiers ignorierte. „Wenn der Test kommt, werd’n wir es wissen.“ Er formte seine Hände zu einem Gefäß, um das Blut des Raptors aufzufangen und es sich dann über das ganze Gesicht zu schmieren.

„Was machst du da?“ fragte Vol’jin.

„Dunkle Magie, Mann.“ antwortete Zalazane und vollendete seine Blutmaske, um sich dann die Finger abzulecken. Er bedeutete Vol’jin, dasselbe zu tun.

„Ich möchte an diesem Ort nich’ nach Blut riechen.“ sagte Vol’jin. Zalazane pflückte ein Insekt von sich ab und warf es nach ihm. Ohne das geringste Zögern fing Vol’jin den Käfer und warf ihn zurück.

„Wir werd’n nach dem Blut eines großen, bösen Dings riechen. Wir werden nach Tod riechen, und nach Ärger“, sagte Zalazane, und warf ein weiteres Insekt. Er hatte kürzlich begonnen, mit Meister Gadrin zu arbeiten, dem ranghöchsten Hexendoktor der Dunkelspeertrolle, und klang sehr zuversichtlich.

Vol’jin klopfte das Insekt ab und kam herüber, um etwas von dem Blut aufzufangen, das noch immer aus dem toten Tier sickerte.

„Könnte uns vor einigem bewahren“, meinte Zalazane. „Aber nich’ vor den Loa.“

„Nich’ vor den Loa“, stimmte Vol’jin zu, während er das warme, klebrige Blut in seinem Gesicht verteilte. Es besaß einen scharfen Geruch. „Aber wir werden das Urteil ohnehin nur übersteh’n, wenn wir uns den Loa stell’n. Und das annehmen, was kommt.“

„Ja, Mann.“

„Au!“ Vol’jin blickte an sich hinunter, er spürte plötzlichen Schmerz. Während er die Augen geschlossen hatte, um das Blut zu verschmieren, hatte Zalazane ihm drei aufgebrachte Insekten auf die Brust gesetzt.

„Wenn ich zum Schattenkrieger werde“, erklärte er Zalazane, „werde ich darum bitten, dass die Loa dich töten.“

„Bis dahin habe ich meine eigenen Kräfte.“ lachte Zalazane.

Die Nacht war hereingebrochen. Im Dschungel war es immer dunkel, und Vol’jin konnte die Nacht nur daran erkennen, dass die Luft kühler geworden war und Wolken aggressiv summender Insekten an ihnen vorbeiwogten. Moskitos von der Größe seiner Hand suchten nach Beute. Vol’jin und Zalazane saßen auf der Spitze einer kleinen Erhebung. Zu einer Seite fiel sie scharf ab und endete in zerklüfteten Felsen. Sie waren gelaufen, bis ihre Füße wund waren, und ihr Atem nur noch ein abgehacktes Keuchen. Die Luft war dicht und unbewegt.

„Was für ein merkwürdiger Test.“, sagte Zalazane mit leiser, vorsichtiger Stimme. „Wir laufen einfach hier herum und töt’n Tiere. Wo sind die Loa?“

Vol’jin wollte gerade antworten, als plötzlich ein kalter Schauer seinen Rücken hinablief und er eine Präsenz spürte. In diesem Augenblick war ein Loa hier bei ihnen auf der Anhöhe. Er konnte ihn weder sehen noch riechen, doch die Haare in seinem Nacken sagten ihm, dass er da war. Mit einem Blick auf Zalazane nahm er denselben grauenvollen Horror in den Augen seines Freundes gespiegelt wahr.

Als nächstes spürte er Schmerz. Schlimmer als ein gebrochener Knochen oder eine Stichwunde. Heftiger und intensiver als jeder Schmerz, den er in seinem Leben je gespürt hatte. Er überflutete sein Bewusstsein und machte jeden Gedanken zunichte.

Eine Stimme wisperte ihm zu. „Die Klippe“, sagte sie geräuschlos. „Die Felsen dort unten. Sie werd’n den Schmerz beenden. Ganz schnell. Ganz einfach.“ Vol’jin erkannte, dass dies stimmte: Nur ein Herzschlag und er könnte über die Kante gleiten, und der Schmerz hätte ein Ende. Seine einzige andere Wahl wäre, ihn zu ertragen.

Vol’jin schloss seine Augen und ertrug ihn.

Nach einer Ewigkeit versank sein Körper unter ihm. er schwebte, frei von allen Wahrnehmungen. Eine Vision floss in sein Sichtfeld. Dort war er, älter, selbstbewusster. Er betrachtete die Vision aus großer Entfernung und war gleichzeitig ein Teil von ihr. Eine Reihe von Dunkelspeertrollen folgte ihm. Sie gingen durch ein fremdartiges Land mit spärlicher Vegetation und ockerfarbenen Felsen. Eine enorme Stadt erhob sich in der Ferne, voller scharfer Zacken und Spitzen. Kriegstrommeln dröhnten und Rauch hing in dichten Wolken über der Stadt. Eigentümliche, vollkommen grüne Kreaturen in aufwendigen Rüstungen waren vor ihm aufgereiht. Einige andere Wesen, groß und zottig, mit Hufen, beobachteten ihn von der Seite.

Vol’jin näherte sich dem Anführer der grünen Wesen, dessen Gesicht harte, weise Züge besaß. Sie ergriffen gegenseitig ihre Hände, gleichberechtigt, und lächelten. Worte fanden ihren Weg in Vol’jins Bewusstsein. Orcs. Orgrimmar. Tauren. Thrall.

Die grünen Kreaturen vollführten Willkommensgesten und die Dunkelspeertrolle legten ihre Lasten ab. Sie wirkten erleichtert, doch gleichzeitig geschlagen.

„Warum?“ fragte eine Stimme ihn. Vol’jin spürte diese Stimme in seinen Knochen; sie dröhnte in ihm. „Warum führst du unser Volk in die Unterwerfung? Es wäre doch zweifellos der bessere Weg, allein und stolz erhobenen Hauptes zu kämpf’n, allein und stolz erhobenen Hauptes zu sterb’n.“

„Nein“, sagte Vol’jin, und dachte genau darüber nach. „Die Dunkelspeere sollten immer frei und stolz sein können. Doch um frei sein zu können, müssen wir am Leben bleib’n. Wenn wir sterb’n, haben wir bereits verlor’n. Es ist besser, abzuwart’n, zu ertragen. Wir sind ein uraltes Volk, und wir ertragen viel.“

Er spürte, wie die Wahrheit seiner gesprochenen Worte ihn durchdrang. Er war unter seinen Freunden immer der Stratege gewesen, derjenige, der ein Problem von allen Seiten betrachtete. Seine Entschlossenheit, zu überleben und zu gewinnen, war stark.

„Du bist weise für dein junges Alter“, sagte die Stimme. „Die Dunkelspeertrolle werd’n leiden müssen, sie werd’n kämpfen müss’n. Das Erdulden bedeutet für sie das Überleben.“ Die Vision schmolz dahin und enthüllte, was nur ein Loa sein konnte: eine glühende Kugel, die uralte Weisheit und Trauer ausstrahlte. Etwas Verblichenes und Trübes. Etwas, das sich in der Ersten Heimat aufgehalten hatte, schon lange, bevor Vol’jin geboren wurde. Bilder und Gestalten schwebten dicht unter seiner Oberfläche und verschwanden wieder. Vol’jin hatte kaum Gelegenheit, den Loa richtig wahrzunehmen, da verschwand er auch schon. Die Welt um ihn herum veränderte sich.

„Ich gewähre dir Sicht“, sagte die Stimme und verblasste. Vol’jin fand sich auf der Anhöhe wieder. Zalazane war da.

„Wir könn’n Loa sehen. Wir könn’n sie sehen!“, jubelte er. Die beiden Trolle lächelten sich an.

„Vielleicht erleben wir einen weiteren Tag“, sagte Vol’jin.

„Freu dich nur nich’ zu früh“, sagte Zalazane. „Wir sind noch nich’ fertig. Gadrin sagte mir, es gibt viele Lektionen zu lernen. Die Loa hab’n sicher noch mehr für uns parat.“

„Was hab’n die Loa dir gezeigt?“, fragte Vol’jin. Er und Zalazane saßen an einem Feuer und drehten ein Kommu auf einem Spieß darüber. Das Fett troff von den Knochen des Tieres und fiel zischend und brutzelnd ins Feuer. Es war bereits mehrere Tage her, soweit Vol’jin das beurteilen konnte, und das Feuer war ein unvernünftiger Luxus. Doch die wilden Tiere schienen sie in Ruhe zu lassen, als seien sie von den Loa gezeichnet worden. Das war keineswegs so beruhigend, wie es hätte sein sollen.

„Ich war ein großer Hexendoktor der Dunkelspeere“, sagte Zalazane. „Wir war’n in einem fremden Land, steckt’n in Schwierigkeiten. Unser Überleben war nicht gesichert, Mann. Wir hätten stark sein müss’n, und das war’n wir nicht. Harte Zeiten für alle, besonders für unseren Anführer. Ich weiß nicht, wer der Anführer war, aber er war nicht dein Vater, Mann.“, sagte Zalazane ruhig. Dann lächelte er. „Ich werde ein Hexendoktor!“

„Ich habe dich belogen, Zal“, sagte Vol’jin. Er spürte sofort Zalazanes gespannte Aufmerksamkeit, obwohl der andere Troll einfach abwartete, dass Vol’jin weiterreden würde. Die zwei hatten sich ihr ganzes Leben lang gekannt und sich niemals angelogen, wenn es um Dinge von Bedeutung ging. „Mein Vater hat mehr getan, als sich nur seltsam zu verhalt’n. Er hat mir von einer Vision erzählt. Er sagte mir, ich müsse gehen und mich dem Urteil stellen. Er sagte mir, wir hätt’n keine Zeit mehr.“

„Er sagte dir, dass wir gehen müss’n?“

„Nicht wir. Nur ich. Ich habe ihn nie zuvor so geseh’n, Zal. Er wollte nichts anderes von mir hören, als dass ich geh’n würde. Er hatte es so eilig, doch als ich ging… da blickte ich zu ihm zurück.“

„Ja?“

„Und er blickte mich an, als ob er mich niemals wiederseh’n würde. Als ob er mich in meinen Tod geschickt hätte.“

„Also dachtest du, du könntest mich gleich mittöt’n?“, fragte Zalazane mit einem verschmitzten Lächeln. Es war ihm schon immer leichtgefallen, Vol’jin aufzumuntern. Sie würden einander immer gegenseitig helfen.

„Ich war nicht bereit, Zal. Ich hätte es niemals alleine geschafft. Aber ich dachte, gemeinsam…“ Vol’jin konnte die Stimme seines Vaters in seinem Kopf hören, als er diese Worte aussprach. Schwach, hätte Sen’jin gesagt. Schwach und verweichlicht. Kein Anführer der Dunkelspeere kann sich diese Schwächen erlauben. Das Leben ist zu schwer, selbst hier auf unserer Insel.

„Zusammen sind wir stärker. Das ist okay, Mann. ich helfe dir, wenn du schwach bist.“ Zalazane grinste, wodurch er den Worten ihre Schärfe nahm. „Du hilfst mir immer. Wir übersteh’n das gemeinsam.“

Vol’jin öffnete seinen Mund, um zu antworten, doch er erstarrte, als er ein Leuchten im Dschungel erspähte. Ein weiterer Loa, noch urtümlicher und unberechenbarer, leuchtete durch das Laub. Er war weit entfernt, doch er rief nach ihm. Vol’jin sprang auf die Füße und stakste hinaus in die Bäume.

„Wo gehst du hin, Mann?“ schrie Zalazane, doch Vol’jin ging weiter. Er konnte den Loa nicht verschwinden lassen. Als er sich dem Leuchten genähert hatte, stolperte er über ein paar Zweige und das Licht des Loas verschwand. Vol’jin fand sich allein im Dunkel des Dschungels wieder.

Schließlich erhaschte er einen Blick auf das verräterische Leuchten zu seiner Rechten. Er begann zu laufen, wischte Blätter und Ranken beiseite und hechtete dem Loa nach. Als er den letzten Ast beiseite schob, war der Geist ein weiteres Mal verschwunden.

Er wartete, für einen Moment außer Atem, und erkannte, dass es keinen Sinn ergab, still stehen zu bleiben. Der Loa hatte ihn in der dampfenden Dunkelheit der Ersten Heimat allein zurückgelassen. Er würde sein Spielchen nicht mitspielen. Sollte er doch versuchen, Vol’jin an der Nase herumzuführen, während er nun durch die Bäume wanderte. Vielleicht würde er den Loa sogar schneller wiederentdecken als der ihn. Er bewegte sich mit größerer Aufmerksamkeit durch das dichte Unterholz und setzte seine Schritte sorgfältig. Er hatte keine Ahnung, wo er oder das Lager sich befanden, doch das spielte keine Rolle für ihn. Den Loa zu finden bedeutete das Überleben. Ihn nicht zu finden, den Tod. Der Loa war alles, was von Bedeutung war.

Er hielt auf einer Lichtung an. Er konnte kleine Fetzen des Himmels durch das Laubdach entdecken - dunklere Flecken im Gegensatz zu dem sanft gewölbten Dach des Dschungels. Er verlangsamte seine Atmung, bemühte sich, kein Geräusch zu machen und suchte mit den Augen die Bäume ab. Er sah nichts. Langsam, so als sei er gerade aus tiefem Schlaf erwacht, wurde er sich einer Hitze in seinem Rücken bewusst.

Er wirbelte herum ­ der Loa war direkt hinter ihm. So nah, dass er die Bewegungen und das Winden der leuchtenden Tentakel auf seiner Oberfläche genau sehen konnte. Das Leuchten des Loas breitete sich aus und erfüllte sein gesamtes Sichtfeld.

Er fand sich in einer Höhle wieder, einer Art Tunnel, und der Pfad teilte sich vor ihm. Auf jedem der beiden Wege befand sich eine Vision seiner selbst.

In der einen saß er auf einem Thron aus purem Gold. Gigantische in Palmwedel gewickelte Braten gab es dort, überall Fässchen mit den edelsten Gebräuen des Dschungels, frischgezapft, Trollfrauen, die zu seinem Vergnügen tanzten. Er sah gesund und vergnügt aus. Eine winzige goldene Kette band sein Bein an den Thron. In der anderen Version war er verwundet und blutete, er sah ausgezehrt aus und war von Feinden umgeben. Das Bild war verschwommen und änderte sich stetig, doch immer mühte er sich, kämpfte ums Überleben. Manchmal führte er andere Dunkelspeertrolle an, manchmal kämpfte er allein, doch die Botschaft war eindeutig: ein Leben ständiger Anstrengung, ständigen Zwists, kein Verschnaufen, Kampf und Tod ohne Unterlass.

Vol’jin lachte. „Soll das ein Test sein, mächtiger Loa? Das is’ eine einfache Wahl. Ich wähle die Freiheit. Ich werde kämpfen und Mühen übersteh’n, vielleicht werde ich niemals glücklich sein, doch ich wähle die Freiheit.“

Aus der Ferne drang die tiefe, uralte Stimme des Loas zu ihm. „Die Wahl is’ nich’ der Test, kleiner Bruder. Doch wenn du gezögert hättest, wenn du zunächst hättest nachdenken müss’n… wenn du auch nur einen Herzschlag lang der Versuchung nachgegeben hättest, hättest du versagt.“ Vol’jin erzitterte, als er den Klang in der Stimme des Loas vernahm. Sie klang, als hätte das Versagen unweigerlich den Tod oder Schlimmeres zur Folge gehabt.

Die Höhle schmolz dahin und Vol’jin fand sich in den Zuschauerrängen einer Arena wieder. Er blickte auf seine Hände herab. Seine Hände, doch älter; sie trugen Narben und Schwielen von den langen Jahren harter Arbeit und Kämpfe. Um ihn herum reihten sich Urahnen und Kämpfer der Dunkelspeere. Hinter ihnen befanden sich Orcs, Tauren und andere. Alle beobachteten gespannt, wie sich zwei Kreaturen gegenüber standen. Ein braunhäutiger Orc mit einer mächtigen Axt und ein Tauren mit einem Speer. Beide waren nur mit Lendenschurz bekleidet und eingeölt für den Kampf. Ein weiteres Mal bildeten sich Worte in seinem Bewusstsein: Garrosh und Cairne. Blutschrei und Runenspeer.

Der Kampf zwischen den beiden wogte vor und zurück in der Arena. Der braune Orc blutete aus mehreren Wunden, während der Tauren unverletzt war. Mit seiner neuen Wahrnehmung konnte Vol’jin außerdem die Loa sehen, die sich überall befanden. Sie bevölkerten die Luft und schwebten am Rande seines Sichtfeldes. Sie hatten sich versammelt und waren aufgewühlt. Offenbar hatte dieser Moment große Bedeutung für Vol’jins Volk, vielleicht sogar für ganz Azeroth.

Während Vol’jin zusah, schwang der Orc seine Axt in weitem Bogen, die Waffe stieß ein wildes Kreischen aus, als die Luft durch die in ihre Seite gehiebenen Riefen brauste. Der Tauren erhob seinen Speer, um den Schlag abzuwehren, doch das genügte nicht: die Axt zerschmetterte den Speer und streifte den Tauren. Beide Kämpfer hielten für einen Augenblick inne. Der Orc konnte dank seiner Verletzungen kaum noch geradestehen, während der Tauren so gut wie unversehrt war. Dennoch war es der Tauren, der nun wankte, seine Hände fielen an seiner Seite hinab. Ein Teil des Speeres hing lose in gefühllosen Fingern. Der Orc erhob seine Waffe und griff an. Das Kreischen der Axt erfüllte die Arena. Der Orc hieb die Waffe tief in den Nacken des Tauren.

Vol’jin fühlte einen tiefen Schmerz in seinem Herzen angesichts des schrecklichen Wunde, die dem Tauren zugefügt worden war. Er begriff, dass dies ein Gefühl echter Trauer war, dessen Echo von dem Vol’jin in seiner Vision durch die Zeiten hindurch zu ihm drang, die Trauer über den Verlust eines Freundes und eines geachteten Urahnen.

Der Tauren brach zusammen. Bevor er auf dem Boden aufschlug, verlangsamte sich die Welt zu einem Kriechen. Vol’jins Sinne verschärften sich und er bekam ein Gefühl, als ob das ganze Universum den Atem einzog wie vor einem Schrei.

Die Loa rasten. Sie zischten und wisperten. Sie schossen vor und zurück, rumorten in seinen Ohren und tauchten durch ihn hindurch. Niemand sonst hatte bislang reagiert. Die anderen Zuschauer waren regungslos. Der Tauren fiel noch immer zu Boden, Blut spritzte.

Da verstand Vol’jin.

Gift. Es traf ihn ganz plötzlich: die Axt war vergiftet, und das war falsch. Das entsprach nicht den Gebräuchen dieser Völker. Der Tauren traf mit einem dumpfen Rums auf den Boden. Alles kehrte zur normalen Geschwindigkeit zurück. Die Menge toste in Bewunderungs- und Entrüstungsstürmen.

All das schmolz dahin, und eine neue Vision formte sich. Er sah sie und befand sich gleichzeitig in ihr. Er stand ein weiteres Mal an der Spitze einer langen Reihe von Trollen. Sie trugen ihre Habseligkeiten und sahen entschlossen aus. Er befand sich noch immer in der fremdartigen ockerfarbenen Landschaft. Mit einem Blick über seine Schulter sah er die große Stadt aus der früheren Vision. Sie war nun dunkler, auf irgendeine Art schärfer. Orcs waren auf dem Wall aufgereiht, sie beobachteten den Exodus der Trolle mit düsteren Mienen. Vol’jin spürte, wie sich das Gefühl der Unruhe verstärkte; es gab noch etwas anderes, was ihm an seiner Vision missfiel. Dann erkannte er es mit einem Schlag.

Zalazane war weit und breit nicht zu sehen.

Wo is’ Zal? fragte Vol’jin sich. Ich brauche meinen Freund jetzt mehr denn je.

Vol’jin spürte, wie Vorahnung und Unsicherheit sein Herz erfüllten, umhüllt von kalter Wut und der Entschlossenheit, mit den Dunkelspeertrollen die gefährlichen Zeiten zu überstehen.

„Du sagtest meinem Bruder, das Überleben wäre besser,“ sagte der Loa, „selbst wenn es Schwäche bedeutet, da man so an einem anderen Tag weiterkämpfen kann. Besser, etwas zu ertragen, als mit Ruhm unterzugeh’n.“ Die Stimme riss Vol’jin aus seiner Vision, sie flatterte in seiner Brust herum. Es war die Stimme von jemandem, der größeren Ruhm und größere Schrecken gesehen hatte als Vol’jin sie jemals sehen würde. „Nun reißt du die Dunkelspeere aus der Sicherheit von Orgrimmar heraus; du riskierst ein Bündnis, das Stärke bedeutet. Du bleibst nich’ bei deiner Meinung?“

Vol’jin zögerte. Ihm wurde eine sehr wichtige Frage gestellt, und er besaß keinerlei Hintergrundinformation. Aus welchen Gründen hätte er eine solche Entscheidung gefällt? Er blickte sich um. Sein Volk war wütend, besorgt, zielstrebig, aufgeregt. Er blickt wieder zum Wall hinauf. Dann fiel sein Auge auf Garrosh. Der eindrucksvolle Kriegshäuptling beobachtete sie von der Festungsmauer, demonstrativ ernst, doch um seine Lippen spielte ein winziges Lächeln der Zufriedenheit. Er hob sich in seiner Rüstung vom Himmel ab, das Licht fiel auf die leuchtend schwarze Tätowierung auf seinem Unterkiefer.

Er war ein Grobian mit einer Begabung für Krieg und Gewalt, doch ohne jedes Verständnis für Diplomatie und Kompromissbereitschaft.

Und dann wusste Vol’jin, warum.

„Ich habe die Dunkelspeere hierher geführt, um unsere Leiber zu bewahr’n“, sagte er. „Damit wir an einem anderen Tag weiterkämpfen können. Aber das sind nur unsere Körper. Das eine, das wir nich’ verlier’n dürfen, Loa, niemals verlier’n dürfen, das is’ unsere Seele. Die Dunkelspeere hab’n eine Seele, und wenn wir hier bei diesem Orc bleiben und uns seinen Anweisungen beugen, dann verlier’n wir unsere Seele. Und dann gibt es kein Zurück mehr.“

„Die Dunkelspeere müssen überleben, aber das Überleben bedeutet nichts, wenn sie ihre Seele dabei verlier’n. Die Dunkelspeere müssen sich treu bleiben. Bleib dir treu.“ sagte die Stimme. „Du wirst nun alle Loa hör’n. Du wirst uns jederzeit hör’n. Du musst lernen, zuzuhör’n.“

Vol’jin öffnete seine Augen. Er lag auf dem stets schlammigen Boden des Dschungels. Verschiedene Insekten bildeten fröhlich Schlammkokons auf seinem Körper. Er befand sich noch immer neben dem Feuer, das nun fast heruntergebrannt war. Weit und breit kein Zeichen von Zalazane. Ganz wie in seiner Vision. Vol’jin richtete sich mühsam auf.

Einen Augenblick später humpelte Zalazane aus der Dunkelheit und setzte sich neben ihn. Für einige Herzschläge starrten sie stumm in das Feuer.

„Ich sah…“ Zalazane zögerte. „Ich sah mich selbst die Dunkelspeerkämpfer vom Stamm wegführ’n. Unser Anführer, er war so schwach, er hatte uns verkauft, Mann. Ich wurde zum neuen Anführer und der Stamm teilte sich in zwei Hälften.“ Zalazane vermied es, Vol’jin anzusehen.

„Und wer war dieser Anführer, Zal? Du sagst, es war nich’ mein Vater, aber es muss jemand sein, den wir kennen.“

Zalazane blickte Vol’jin noch immer nicht an.

Vol’jin nahm einen Stock auf und schürte das Feuer. „Genug Tests.“ war alles, was er sagte.

Vol’jin lief um das Feuer herum. Er war rastlos und wütend, ihm war danach, etwas zu töten. Er war herumgeschubst worden, man hatte an ihm herumgezerrt und ihn herumgewirbelt. Mit jedem weiteren Augenblick ergab seine Welt weniger Sinn. Und nun geriet auch noch seine Freundschaft zu Zalazane – neben der Liebe seines Volkes das Einzige, auf das Vol’in immer hatte zählen können – zur Zerreißprobe.

„Genug“, verkündete er, ohne Zalazane anzusehen. „Ich gehe auf die Jagd. Wir könn’n was zu essen gebrauch’n, und ich kann den Kampf gebrauch’n.“ Er zog seine Gleve und verschwand im dunklen Unterholz. Sich allein in den gefährlichsten Bereich der ganzen Insel zu begeben fühlte sich einfach richtig an.

Es bedeutete Stärke.

Am Feuer setzte Zalazane zu einem tiefen Voodoogesang an. Vor sich in der Düsternis hörte Vol’jin das Knacken eines Zweiges. Ein großes Wesen, das sich um Lautlosigkeit bemühte. Vol’jin grinste, seine Lippen spannten sich über seine Hauer, seine Finger um die Gleve pulsierten.

Er bewegte sich vorwärts und spürte die feinen Härchen der großen Upkablätter, die über sein Gesicht strichen. er hörte das Geräusch erneut, diesmal zu seiner Linken. Er drehte sich um, bewegte sich im Kreis, um die Kreatur auf seiner Rechten zu halten.

Und ein weiteres Mal hörte er eine Bewegung in den Büschen links von ihm. Die Erkenntnis traf ihn. Die Kreatur belauerte ihn. Es gab nur einen Weg: Er griff an.

Zweige und Wurzeln griffen nach ihm, als er sich mit einem kehligen Schrei vorwärts warf. Vor ihm stand ein anderer Troll zu voller Höhe aufgereckt.

Vol’jin taumelte in ihn hinein, und beide fielen zu Boden. Er zückte seine Gleve und setzte sie an die Kehle des anderen. Jeder Troll auf der Insel war ein Dunkelspeer und ein Freund, doch Vol’jin war mit Geschichten über die blutrünstigen Gurubashi aufgewachsen, und an diesem Ort war alles möglich. Der andere Troll blickte auf, auf sein Gesicht fiel ein Strahl vom fernen Feuerschein. Es war Sen’jin, Vol’jins eigener Vater. „Papa?“ fragte Vol’jin ungläubig und verlagerte sein Gewicht von dem hingestreckten Troll herunter. Sen’jin lächelte und schüttelte Vol’jin ab. Der junge Troll landete lachend im Schlamm. Sen’jin sprang auf die Füße, schwang seinem Stab und zielte auf Vol’jins Brust. Vol’jin konnte die mörderische Absicht in seinem Gesicht lesen und warf sich zur Seite, so dass er knapp einem Hieb entkam, der seine Rippen zertrümmert und in sein Herz getrieben hätte. Vol’jin kam auf die Füße, misstrauisch und wachsam, doch er griff nicht an.

„„Papa?“ fragte er. „Was ist denn?“ Sen’jin lächelte nur und schwang seinen Stab in einem tödlichen, niedrigen Bogen. Vol’jin konnte darüber hinwegspringen, doch Sen’jin nutzte den Schwung, um seinen Kopf in Vol’jins Brust zu rammen.

Vol’jin brach auf dem Boden zusammen, der Atem wurde ihm aus den Lungen gepresst. Er rollte auf den Rücken und schnappte nach Luft. Sen’jin glitt in seine Richtung, sein Stab wirbelte erneut.

„Papa, warum tust du das? Habe ich versagt? Ich verstehe nich’!“ bat Vol’jin.

Sen’jin hielt ein. „Du kämpfst nich’, weil du glaubst, mich zu kennen? Schwach.“

Mit diesen Worten ließ er den Stab auf Vol’jins ausgestreckte Hand niedersausen. Die gesamte Kraft aus dem Körper des älteren Trolls lag in diesem Schlag und Vol’jins Hand wurde zerschmettert. Sein Daumen, der an seine Hand gepresst war, bekam die volle Wucht des Schlages ab. Knochen splitterte, und der Daumen krümmte sich zusammen wie eine Kralle.

Vol’jin konnte das Geschehen nicht verarbeiten. Er rollte auf die Seite, seine linke Hand umklammerte die Rechte; ab dem Handgelenk war jeder einzelne Knochen gebrochen, der Daumen nur noch eine breiige Masse. Er stand unter Schock und spürte, wie ihm die Realität seiner Umgebung entglitt. Er sah Sen’jins große bloße Füße, die sich durch den Dschungel entfernten.

„Papa!“ rief er. Sen’jin machte nicht Halt, er wurde nicht langsamer, blickte nicht einmal zurück. Die Büsche bewegten sich, und er war verschwunden. „Papa!“ Vol’jin fiel hintenüber, die Augen zusammengekniffen, und hielt seinen Arm.

Nach einem Augenblick gewann er die Kontrolle über seine Gedanken zurück und blickte auf seine Hand hinunter. Der Daumen war zerstört. Seine Gleve lag im Schlamm, das polierte Metall voller Flecken, Schmutz und Blut.

Die Hand würde heilen. Doch der Daumen würde missgestaltet bleiben. Vol’jin würde mit dieser Hand niemals ein Messer werfen können, niemals eine Gleve halten. Niemals jagen, niemals das Signal zu einem Angriff geben.

Doch es gab einen Weg, das in Ordnung zu bringen. Er kannte den Weg.

Vol’jin holte tief Luft, griff mit der linken Hand nach seiner Gleve, hob sie hoch über seinen Kopf. Er würde es mit geöffneten Augen tun. Er schwang die Gleve in einem großen, eleganten Bogen herab. Sie glitt geschmeidig durch Haut und Knochen seiner rechten Hand; das zerschmetterte, verunstaltete Ding, das einmal sein Daumen gewesen war, flog in die Dunkelheit.

Er wollte zu den Sternen über ihm schreien, doch stattdessen biss er sich auf die Lippen, bis sie bluteten, und wiegte sich vor und zurück. Er gab keinen Laut von sich. Der Daumen würde sauber nachwachsen. Alle Trolle waren von den Loa mit ein wenig Regenerationsfähigkeit gesegnet. Sie konnten Finger und Zehen nachwachsen lassen, wenn auch kompliziertere Gliedmaßen und Organe jenseits ihrer Möglichkeiten lagen. Es würde eine Weile dauern, doch er würde wieder heil sein.

Er sah langsam ein breites Leuchten am Rande seines Sichtfeldes und fragte sich, ob er einer Ohnmacht nahe war. Doch das Leuchten wurde stärker und stärker.

Vol’jin blickte auf.

Ein Loa leuchtete in der Nähe. Sein Licht war hell und lebhaft. Stärker und irgendwie frischer als der uralte, zurückhaltende, den er zuvor gesehen hatte. Er schien irgendwie vertraut. Er hatte das Gefühl, als ob er den Geist einmal gekannt hatte, vor langer Zeit.

Während Vol’jin noch den neuen Loa wahrnahm, fand er sich schon in einer Vision wieder. Er war auf einer Dschungelinsel, die sich stark von seiner augenblicklichen Heimat unterschied.

Wiederum konnte er sich selbst von außen beobachten, während er gleichzeitig in seinem Körper steckte. Er war älter, weiser, abgehärteter und unendlich viel schwermütiger. Er führte eine Gruppe von Trollen durch die Vegetation.

Die Szene wandelte sich, und er kämpfte gegen einen anderen Troll. Ein Hexendoktor mit wilden Augen, geschmückt mit Fetischen und einem aus Klauen zusammengeknüpften Halsband. Sie kämpften um Leben und Tod, während um sie herum die Schlacht der anderen tobte.

Der Hexendoktor war Zalazane.

Der Loa sprach. „Du kämpfst gegen dein eigenes Volk? Gegen einen anderen Dunkelspeer? Den Freund deiner Kindheit?“

Vol’jin sagte nichts, er beobachtete einfach den Kampf. Er verblich langsam vor seinen Augen, die Farben verflossen, wie frische Farbpigmente eines Idols im Regen es taten.

Nicht Zalazane. Sie hatten ihre gesamte Kindheit gemeinsam verbracht, waren gerannt, hatten geangelt und Ringkämpfe ausgefochten. Sie hatten Festungen aus Schlamm gebaut, ihrer beider erstes Jagdopfer war das gleiche Tier gewesen. Zalazane wusste Dinge über Vol’jin, die kein anderer ahnte. Über seine Ängste und seine Erfolge. Als er als kleines Kind über ein totes Haustier geweint hatte, oder an dem Tag, als er einen älteren Rowdy bewusstlos geprügelt hatte – Zalazane war immer dabei gewesen.

Vol’jin blickte hinunter. Der Stumpf sagte alles.

„Ich werde jeden töt’n, der die Zukunft der Dunkelspeer bedroht.“ sagte er. „Spielt keine Rolle, wer es is’. Der Stamm ist alles; seine Zukunft… ist alles.“

„Du bist weise, Junge“ sagte der Loa mit dieser Vertrautheit, die Vol’jin nicht einordnen konnte. „Du hast den Daumen nich’ abgetrennt, um dein Leben zu retten; du hast es gemacht, um deine Zukunft zu retten. Die Dunkelspeere müssen kämpferisch sein. Sich treu bleiben. Ertragen. Es wird nie leicht sein, aber das is’ der einzige Weg.“

„Wer bist du?“ fragte Vol’jin. Er musste es einfach wissen.

Der Loa ignorierte seine Frage. „Ich gewähre dir die Macht, dich mit den Loa zu beraten“, sagte er. „Wir werden nicht immer mit dir übereinstimm’n, aber wir werden dir eine faire Chance geb’n. Du bist jetzt ein Schattenjäger, Troll.“. Der Loa verblasste.

Später wanderten Vol’jin und Zalazane gemeinsam durch das dichte Unterholz.

„Die Zukunft“ sagte Vol’jin, „steht nicht fest. Wir sind keine Spielfiguren auf irgendeinem Brett. Wenn ich etwas töte, ist es tot durch meine Entscheidung.“

„Ja, Mann“ sagte Zalazane. „In meiner Seelenreise is’ mir alles klar geword’n. Wir sehen Pfade. Keine sicheren, nur Möglichkeiten. Wenn ein Troll schwach is’, wenn wir stark sein müssen, dann wird vielleicht ein anderer Troll vortreten. Und der Schwache… “ Er blickt weg von Vol’jin. „Der Schwache wird dann vielleicht zum Bösewicht in der Geschichte des Starken.“

„Aber was, wenn der Schwache wieder zum Starken wird, Zalazane?“

„Ich weiß es nich’, Mann. In all dem steckt Dunkles Voodoo. Vielleicht werd’n beide zu großen Führern. Vielleicht werd’n sie zu Freunden. Oder vielleicht wird der andere Troll zum Bösewicht.“

„Zalazane, das werden wir nich’ zulassen. Wir sind Freunde, und wir lernen viele Dinge. Du und ich, Mann, wir müssen ertragen, und uns treu bleiben, und kämpferisch sein.“

„Ja“, sagte Zalazane, aber aus seiner Stimme klang wenig Hoffnung. „Wir werden schon einen Weg find’n, Vol’jin.“

Vol’jin und Zalazane bewegten sich vorwärts durch das Unterholz und ließen die Erste Heimat schnell hinter sich. Sie sahen erste bekannte Anzeichen, die ihnen sagten, dass das Gebiet der Dunkelspeere nah war.

Die Visionen und Offenbarungen der vergangenen Tage verblassten schnell. Vol’jin versuchte frustriert, die Details festzuhalten, doch mit jedem Schritt, mit dem sie sich weiter von der Ersten Heimat entfernten, wurden die Erinnerungen undeutlicher. Vielleicht war das genau das, was die Loa wollten – nur ein vages Gefühl dafür, was nötig war. Nur wenige Worte verblieben. Ertragen. Treu. Kämpferisch.

Vol’jin und Zalazane waren nun anders. Sie bewegten sich selbstsicher, tasteten unaufhörlich die Umgebung nach Gefahren ab. Sie hatten sich in der Ersten Heimat verändert. Sie waren als Welpen dort eingedrungen und waren nun als Raubtiere daraus wieder hervorgegangen. Sie waren gefährlich, stolz, stark; sie waren Dunkelspeertrolle.

Als sie sich dem Dorf näherten, sahen sie mehr und mehr alarmierende Zeichen. Zertrampelte Blätter, Blutspritzer. Qualm lag in der Luft.

Jede Faser seines Bewusstseins sagte Vol’jin, dass sich etwas Entscheidendes gewandelt hatte. Ein fundamentaler Bestandteil des natürlichen Lebensrhythmus der Insel war für immer verändert worden. Er streckte den Arm aus und Zalazane hielt sofort inne. Sie standen auf dem Trampelpfad in kurzer Entfernung zum Dorf der Dunkelspeere. Es war noch nicht in Sicht, doch selbst die Geräusche klangen falsch. Vol’jin hörte Zeichen von Geschäftigkeit, er konnte Arbeiter hören, die Bäume fällten, und Gehämmer.

Vol’jin schloss seine Augen und atmete tief ein, er lauschte den Loa. Sie flüsterten ihm zu, doch es fiel ihm schwer, sie zu verstehen. Er würde es mit der Zeit lernen.

„Ich glaube, unser Dorf wurde angegriffen.“ sagte er zu Zalazane und bemühte sich, die Botschaften der aufgewühlten Loa zu verstehen.

Zalazane nickte einfach nur wissend. Er hatte nun seine eigenen Methoden, und ihre unterschiedlichen Perspektiven hatten eine Kluft zwischen ihnen geschaffen.

Sie bewegten sich weiter vorwärts, die Waffen im Anschlag, jeder Schritt wohlbedacht.

Sie ließen das Buschwerk hinter sich und konnten nun das Dunkelspeerdorf erblicken. Hütten waren umgestürzt worden, überall lagen Trümmer herum.

Am Rand des Dorfes waren Leichen ordentlich aufgereiht worden. Trolle bewegten sich zwischen den Toten und arrangierten sie in friedlichen Ruhepositionen. Frauen und Kinder knieten hier und da bei einem Troll, schluchzend und haareraufend. Ein Priester wiegte sich mit geschlossenen Augen vor und zurück und murmelte dabei.

Die Trolle, ob tot oder lebendig, waren alle Dunkelspeere.

Vol’jin und Zalazane fielen in einen schnellen Lauf und wandten sich Richtung Dorfmitte. Hier waren die Verwüstungen noch verheerender. Sie passierten viele Dunkelspeere, alle zu beschäftigt mit ihren eigenen Angelegenheiten, um auf die beiden zu achten.

In der Nähe der Lagune sahen sie Mannschaften von Dunkelspeertrollen, die Schiffe bauten. Viele Schiffe. Diese Geschäftigkeit in organisierten Teams war so ganz anders als das, was Vol’jin vom entspannten Inselleben gewohnt war.

Sein Herz begann schneller zu schlagen. Sein Volk war nicht erobert worden, doch in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit hatten es sich verändert.

Vol’jin und Zalazane hielten in der Dorfmitte an, zwei bewegungslose Gestalten in einem Gewusel von Aktivität. Einige Trolle warfen ihnen im schnellen Vorbeigehen vorsichtige, verwirrte Blicke zu. Die Loa begannen, durchdringend zu lärmen. Nur Vol’jin konnte sie hören, doch er wusste schon, dass jetzt etwas geschehen würde. Er blickte sich um und sah einen Troll, der auf sie zukam. Vol’jin und Zalazane drehten sich um, um Gadrin entgegenzusehen, dem obersten Hexendoktor des Stammes, als er auf sie zuschritt.

„Jungs“, sagte er. „Wo seid ihr gewesen? Ich dachte, ihr wärt tot.“

„Was meint Ihr, Meister?“, fragte Zalatane. „Wir waren nur für eine Woche im Dschungel.“

„Eine Woche? Vol’jin, Zalazane… Ihr wart für drei Monate fort. Es is’ so viel passiert. Eigenartige grüne Wesen kamen über das Meer –“

„Orcs“ sagte Vol’jin.

„Ja, Mann“ sagte Gadrin überrascht. Er wurde nachdenklich, als er fortfuhr. „Dein Vater, Vol’jin… Er kämpfte gegen die Seehexe, und er…“

„Er ist hinübergegangen. Er ist jetzt bei Bwonsamdi, Meister Gad. Ich weiß es.“ Vol’jin wurde sich der Wahrheit seiner Worte bewusst, während er sie aussprach. Er wusste, sein Vater war nicht länger unter den Dunkelspeeren. Zumindest nicht als Troll.

„Wir werden den Orcs über’s Meer folgen.“ fuhr Gadrin fort. „Die Seehexe is’ zu stark; hier können wir nich’ bleiben. Dein Papa, er sagte, wir sollten gehen. Es dauert aber seine Zeit. Wir müssen uns vorbereit’n.“

„Ich verstehe“ sagte Vol’jin, und plötzlich erfüllte ihn Zuversicht. „Ich werde mich um die Evakuation kümmern.“

„Ich helfe dabei“ sagte Zalazane mit einem Lächeln.

Vol’jin grinste seinen Freund an. Es wäre am sinnvollsten, Zalazane vorauszuschicken, um den Weg zu ebnen. Zalazane war sein treuester Freund, er würde die Aufgabe gut ausführen. Doch ein Teil von ihm sträubte sich dagegen. Er wusste nicht, warum, doch er hatte das Gefühl, er sollte Zalazane im Augenblick an seiner Seite haben.

Sie würden sich gegenseitig helfen, zusammen konnten sie alles bewältigen. Sie würden sich treu bleiben, kämpferisch sein, und sie würden ertragen.

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